Angefangen habe ich dieses "Le Réel" genannte Triptychon im Frühling 2020,
in jener Zeit also, die wir alle wegen der Pandemie nicht so schnell vergessen werden. Vor allem die ersten Tage nach dem Lockdown hatten eine irreale, apokalyptische Atmosphäre, schauten wir doch ganz genau um uns und bemerkten nicht die geringste Veränderung - sie, die Viren aber, lauerten überall …
So, so, dachte ich, auch so könnte also die Endzeit aussehen!
Oder wenigstens ihr Anfang...
Dann aber musste ich brav in meinem Zimmer bleiben, und dort im Zimmer las ich im Feuilleton über einen kleinen Zwischenfall, der im Gegensatz zum Lockdown in Vergessenheit geraten wird, bevor ich mit meinem Triptychon fertig sein werde. Ich male nämlich immer noch, während ich diese Zeilen schreibe …
Langsamkeit ist wichtig!
In einem seiner letzten Bücher bedauert Imre Kertész zu Recht den Umstand, dass der Humor seine Ernsthaftigkeit verloren hätte. Mit der Langsamkeit versuche ich, immerhin etwas davon zurückzuretten.
Die drei kargen Bilder sind recht klein: Jede Leinwand ist 50 x 75 cm gross und enthält jeweils ein kurzes Zitat.
ERSTER TEIL
Die Apokalypse als Versprechen bzw. als Bedrohung ist schon immer ein mächtiges Instrument gewesen, um Änderungen des menschlichen Verhaltens zu bewirken. Heutzutage erleben wir allerdings eine übermässige Häufung untereinander sich oft widersprechenden apokalyptischen Angeboten, die eher zu einer allgemeinen Ratlosigkeit führen. Wie gut kann ich den Propheten Jona verstehen, der mit diesem Geschäft nichts zu tun haben wollte und, anstatt nach Ninive zu gehen, in der entgegengesetzten Richtung, nach Tharsis, flüchtete! Das war übrigens der beste Beweis für die Echtheit seiner Prophetie.
In meinem Zimmer, in diesem wegen Covid-19 so ruhig und still gewordenen Zürich, höre ich plötzlich die Stimme meiner längst verstorbenen Mutter. Sie rezitiert für mich die Geschichte von Jona. Nicht die biblische, sondern jene, in wunderschönen ungarischen Versen von Mihály Babits nachgedichtete Version. Es war ihr Lieblingsgedicht.
Bei Babits flieht Jona vor Gott so wie der Räuber vor dem Scharfrichter. In der Dunkelheit des Bauches jenes Fisches, der ihn verschlungen hatte, erkennt Jona die Unmöglichkeit, sich seiner Bestimmung zu entziehen, und dass der, der nicht leiden will, zweimal leidet.
"Aber auch Du, Gott, kannst nicht von mir wegfliehen", sagt er, "obwohl ich in diesem Fisch zu salzigem Fleisch wurde":
De te se futhatsz, Isten, énelölem,
Habár e halban sós hús lett belölem!
In Ninive wird Jona von den Bewohnern der Stadt regelrecht ausgelacht. Umso grösser ist seine Bestürzung, Kränkung und Enttäuschung, als Gott es sich aus Mitleid anders überlegt und entscheidet, Ninive doch nicht zu zerstören.
Gottes Schlusswort: "Predige nur weiter, Jona, das Handeln übernehme ich. Ninive wird nicht ewig leben, und du, Jona, auch nicht. Neue Ninives werden noch entstehen und neue Jonasse werden kommen, und vierzig Tage, vierzig Jahre, oder tausendmal soviele sind Einerlei in meinem Munde …"
Eines dieser Ninives der Neuzeit und des Nordens, das im Gegensatz zum Alten
tatsächlich zerstört wurde, sollte die Geschichte von der Sinnlosigkeit der Apokalypse als Züchtigungsmittel in sich tragen.
Hamburg wurde in der Nacht auf den 28. Juli 1943 von der Royal Air Force fast vollständig zerstört. Die Operation hiess "Gomorrha". In seinem Buch "Luftkrieg und Literatur" zitiert W.G. Sebald den Fall Stig Dagermans, der 1946 für die Zeitung "Espressen" aus Hamburg schrieb, dass er mit der Bahn "bei normaler Geschwindigkeit eine Viertelstunde lang durch Mondlandschaft zwischen Hasselbrook und Landwehr gefahren sei und nicht einen einzigen Menschen in (…) dem vielleicht schauerlichsten Ruinenfeld in ganz Europa" gesehen habe. "Der Zug", so Dagerman, "sei, wie alle Züge in Deutschland, sehr voll gewesen, doch habe keiner hingeschaut. Und ihn selber habe man, weil er hinausschaute, als einen Fremden erkannt."
Gut, das war 1946, unmittelbar nach dem Krieg. Aber haben die Bewohner der Stadt später mindestens etwas dazu gelernt? Oh ja, doch, und wie!
Und schon sind wir bei jenem anfangs erwähnten kleinen Zwischenfall, der mir als Inspirationsquelle fürs Triptychon diente: Eine junge, humorvolle österreichische Kabarettistin wurde von einer Institution für ein Literaturpodium nach Hamburg eingeladen. Die Linksautonomen der Stadt drohten mit Gewalt, die Kabarettistin sei eine Antisemitin. Manche sagen, es sei die Freundin der Tante einer Nachbarin gewesen, die von der Absicht der Autonomen, mit Gewalt zu drohen, Wind bekommen hätte. Prompt luden die Behörden Hamburgs die Kabarettistin wieder aus.
That's it.
Ich zitiere aus dem Gedächtnis die belastende Aussage der Kabarettistin:
"Wir haben die Juden immer gegen die Anschuldigung verteidigt, sie jagten
ständig dem Geld nach. Jetzt haben wir die Herren Polanski, Weinstein, Epstein, und wissen: Sie, die Juden, jagen tatsächlich nicht dem Geld, sondern den Weibern nach. Das Geld brauchen sie bloss, um die Weiber zu kriegen …"
Ich werde in meinen Gedanken von der Stille abgelenkt, die von draussen in mein Zimmer eindringt. Ich betrachte durchs Fenster die von Menschen und Autos leergefegte Strasse. Vor nur wenigen Tagen demonstrierte dort um die Ecke die fürs Klima streikende Jugend. "Wozu noch in die Schule gehen", brüllten sie, "es gibt sowieso keine Zukunft!"
Vielleicht kommt die Pandemie jener unter ihren zutiefst besorgten Propheten entgegen, die mehr Empathie für den Planeten als für die Menschen empfinden. Ihre endzeitliche Vision ist nicht einmal so trostlos, wie sie beim ersten Anblick erscheint, denn irgendjemand wird ja mit Sicherheit überleben und überstehen.
Kein Mensch zwar, aber irgendjemand, irgendetwas.
Gerne stelle ich mir Bubu für diese Rolle vor, Bubu, unser vor vierzen Jahren aus dem Friedhof Sihlfeld uns zugelaufenen Kater. Bubu ist garantiert kein Mensch, er kapiert nichts, ja nicht einmal lesen kann er jene vielsagende letzte Zeile aus Rainer Maria Rilkes "Requiem", die ich ihm unter seine ahnungslosen Pfoten schiebe: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles."
ZWEITER TEIL
Dieser Satz von Paul Valéry befindet sich in seinem Buch "Mauvaises pensées et autres" und scheint eine Umschreibung jener Bemerkung Blaise Pascals zu sein, die ich oft während des Lockdowns gehört habe: dass nämlich das ganze Unglück der Menschheit ihrer Unfähigkeit entspringt, ruhig in einem Zimmer zu bleiben.
Ein Mann, so Valéry, stellte sich unzählige wunderbare Sachen vor, die sich seiner Phantasie anboten; dann aber, von einem geistigen Abenteuer zum nächsten, von Gefahren zu Vergnügungen, von Rasereien zu Zärtlichkeiten, landet er an einem Ort und bei Objekten, die ihn in Erstaunen versetzen, als er bemerkt, dass sie dieselben sind, die ihn gerade umgeben … So findet er sein Zimmer, seine Wände, seine Hände, seine ganze Realität wieder - als letzte unter all den Verwandlungen. Denn schliesslich ist die Realität nicht mehr als ein besonderer Fall.
Publiziert wurden die "Mauvaises pensées et autres" 1941, entstanden sind sie wahrscheinlich 1940, als Frankreich zusammenbrach. Eine Berufung zum Heldentum hatte Valéry nicht, wohl aber eine zur Anständigkeit. Sein Betätigungsfeld musste sich also notgedrungen während der Besetzung auf sein Zimmer beschränken. Kollaboration kam nicht in Frage, wie im Fall jener unzähligen späteren Maulhelden aus dem Quartier Latin, viele Kommunisten inbegriffen, die gut organisierten und disziplinierten strammen Antifaschisten, die 1940 der neuen, seit August 1939 geltenden, von Moskau diktierten Kominternlinie folgten: Nicht Deutschland, nein, die Sozialisten und die französischen und englischen Kapitalisten und die Juden sowieso hätten den Krieg verursacht. Alle feindseligen Aktivitäten gegen Nazideutschland müssten aufhören, die Kommunisten seien Pazifisten, nicht wahr? ("… sie gehen allesamt mit Lügen um und trösten mein Volk in seinem Unglück und sagen: 'Friede! Friede!', und ist doch nicht Friede." Jeremia 6, 13-14)
An einer anderen Stelle bei Paul Valéry heisst es dann aber: Die Realität ist immer in der Opposition. Gerade deshalb und erst jetzt ist mir klar, warum jener Zwischenfall aus dem Feuilleton so seltsam und irgendwie beruhigend auf mich wirkte: Es ging ja um eine perfekte Win-Win-Situation, alle Beteiligten sind gut aus ihr herausgekommen. Die Stadtbehörden von Hamburg taten so, als ob sie die öffentliche Ordnung verteidigten, die Linksautonomen so, als ob sie Deutschland und die Juden retteten - frei nach dem Motto: Wehret den Anfängen! Wir haben bereits einmal ziemlich schlechte Erfahrungen mit einem kabarettistisch begabten Österreicher gemacht! - , das Feuilleton, das sich hinter die junge Dame stellte, hielt die Fahne der Meinungsfreiheit hoch, ich selbst kriegte, um meine Lockdown-Melancholie zu bekämpfen, ein tolles Thema für ein Triptychon, und, last but not least, die österreichische Kabarettistin tat so, als ob sie bzw. die Figur, die sie darstellte, entdeckt hätte, dass zwischen der ständigen Gefahr, der Frauen und Mädchen überall in der Welt ausgesetzt sind und der Geilheit der Juden ein direkter Zusammenhang bestände.
Natürlich stimmt das mit der Entdeckung nicht ganz: Nichts Neues gibt es bekanntlich unter der Sonne.
Ich betrachte dieses berühmte Schwarz-Weiss-Foto von 1935. Es stellt eine Strasse in Hamburg dar. Die junge Frau wendet verlegen ihren Blick von der Kamera ab. Die jungen uniformierten Männer neben und hinter ihr schauen dagegen keck und selbstbewusst direkt in die Kamera. Am Hals der Frau hängt ein Plakat mit einem vierzeiligen Text:
Ich bin am Ort
das grösste Schwein
und lass mich nur
mit Juden ein!
Was ist aus ihr geworden, frage ich mich … Hat sie die Apokalypse vom 28. Juli 1943 überlebt? Und was ist aus den jungen Männern geworden? Haben sie den Krieg überlebt? Falls ja, haben sie recht schnell, da bin ich sicher, ihr "Sieg Heil!!!" Geschrei durch Rilkes Seufzer ersetzt: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles"…
Und dann haben sie sich daran gemacht, Hamburg wieder aufzubauen.
DRITTER TEIL
Als ich mich Anfang der 1980er Jahre in Zürich niederliess, gab es in der Stadt unglaublich viele Esoterikerinnen - … auch Esoteriker übrigens, fast habe ich vergessen, sie ausdrücklich zu erwähnen, sie waren aber selbstverständlich mitgemeint! Sie waren entweder frisch aus irgendeinem indischen Ashram zurückgekehrt oder auf dem Weg in eines. Diese Mode ist längst vorbei, aber hätte ich damals so einer Esoterikerin diesen Satz über unsere Rettung gezeigt, hätte sie mit Begeisterung zugestimmt und ihn irgendwie buddhistisch gedeutet.
Das Problem ist nur, dass dieses dunkle Gefühl von Unrettbarkeit und die Vorahnung einer nicht wiedergutzumachenden Apokalypse, so bezeichnend für viele Texte des Autors dieses Titelsatzes, durchaus allgemein menschlich deutbar, etwas anders klingen, wenn man bedenkt, dass ihn nur sein früher Tod vor dem anderen bewahrte. "Die Gnade des frühen Todes", hätte ein berühmter deutscher Bundeskanzler gesagt. Ich meine natürlich das kontinentaleuropäische, unter deutscher Führung recht erfolgreich durchgeführte Projekt der Ermordung sämtlicher Juden Europas.
Alle drei Schwestern Franz Kafkas, denn um ihn geht es, wurden ja so ermordet. Hamburg wurde am 28. Juli 1943 zerstört, die andere Apokalypse aber, der industriell organisierte Mord an den Juden, ging munter weiter, monatelang, jahrelang, methodisch und effizient, und wie in jener von Dagerman geschilderten Zugfahrt von 1946, niemand schaute zu, abgesehen von einigen wenigen, die man aber sofort als Fremde erkannte.
Meine Mutter z.B. wurde im Klausenburger Ghetto, von wo sie nach Auschwitz deportiert wurde, erst am 3. Mai 1944 eingesperrt, mehr als neun Monate nach der Bombardierung von Hamburg. Allein in diesem Getto gab es etwa 18'000 Menschen, sechs lange Züge brauchte man, um sie ruhig und sicher zu den Gaskammern zu transportieren. Meine Mutter überlebte.
Längst ist das Ninive des Nordens wieder aufgebaut: Die Stadt Hamburg ist heute
schöner denn je!
Auch Eretz Israel gibt es heute, es befindet sich aber nicht in Europa, und die Bereitschaft seiner Bürger, Moralunterricht von den Bewohnern Europas entgegenzunehmen, hält sich verständlicherweise und zum Glück in Grenzen.
Nie wieder wird es aber ein europäisches Judentum wie einst, als relevanten demographischen, kulturellen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, künstlerischen Faktor geben.
Tolle Denkmäler, Friedhöfe und Museen? Natürlich. Polizeilich scharf beschützte Synagogen und Gemeindehäuser? Selbstverständlich. Einfach so mehr oder weniger geile, kluge und dumme, gute und schlechte Juden? Das auch, bin ich ja auch einer, und - meinetwegen! - auch die Herren Polanski, Weinstein, Epstein. Und selbstverständlich ist es das gute Recht sämtlicher humorvoller österreichischer Kabarettistinnen, Judenwitze zu klopfen.
Viel mehr liegt aber nicht drin.
Das ist die Realität. Mais, aprés tout, le réel n'est qu'un cas particulier.
© Text und Bilder:
Valentin Lustig, Sept. 2020
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